Renovieren statt Abreissen: Wie ETH-Forscherinnen das Bauen neu denken
von belmedia Redaktion Allgemein Architektur bauenaktuell.ch Baustoffe Bauweisen Modernisierung Nachhaltigkeit News Projekte
Reparieren statt wegwerfen, knappe Ressourcen schonen und weniger CO₂ ausstossen – in vielen Bereichen unserer Gesellschaft ist das mittlerweile zu einer neuen Leitidee geworden.
Auf den Baustellen in Zürich, in vielen anderen Teilen der Schweiz und weltweit sieht die Realität jedoch anders aus. Wegen Wohnungsknappheit, einer gesellschaftlich gewünschten Verdichtung der Städte und besserer Wärmeisolierung aus Klimaschutzgründen werden alte kleinere Gebäude abgerissen und durch neue grössere ersetzt.
Die Städte verändern sich schnell. Beton, Ziegelsteine und Stahl, die vor Jahrzehnten mit sehr viel Energie hergestellt wurden, landen auf Deponien oder werden – wie im Fall von Metall – eingeschmolzen und durch neues Material ersetzt, das ebenfalls mit sehr viel Energie hergestellt wurde. Die Bauwirtschaft gehört zu den Branchen, die am meisten zur Klimaerwärmung beitragen.
Eine Alternative wäre möglich. Catherine De Wolf, Professorin für zirkuläres Engineering in der Architektur, setzt sich für eine Kreislaufwirtschaft auch beim Bauen ein. „Wir müssen weniger abreissen und anders bauen“, sagt sie.
Auch Gebäude, die in die Jahre gekommen sind, sollten nach Möglichkeit stehengelassen, renoviert und gegebenenfalls erweitert werden. Wo das nicht möglich ist, sollten die Baumaterialien wenigstens wiederverwendet werden, um in anderen Bauten ein zweites Leben zu erhalten.
Vor vier Jahren war De Wolf massgeblich daran beteiligt, dass die Glasbedachung der Aussenrolltreppen des Centre Pompidou – des Pariser Kunstmuseums, das derzeit saniert wird – wiederverwendet statt entsorgt wurde. Die Glaselemente erhielten ein zweites Leben als Trennwände in einem Bürogebäude.
Renovieren statt Abreissen – für die Identität
Auch Maria Conen, Architektin und Professorin an der ETH Zürich, ist es wichtig, Bestehendes zu nutzen. In ihrem Architekturbüro Conen Sigl Architekt:innen beschäftigt sie sich bereits seit Langem mit dem architektonischen Erbe.
In ihren Bauprojekten versucht sie jeweils, bestehende Gebäude durch Umbau und Erweiterungen bestmöglich weiterzuverwenden. Anfänglich stand bei ihr nicht einmal der Klimaschutz im Vordergrund. Es geht ihr auch um kulturelle und soziale Aspekte.
Künftig sollen auch sogenannte Materialpässe die Arbeit erleichtern. Damit ist ein digitales Dokument gemeint, das Auskunft über die gesamte Geschichte eines Baumaterials gibt, damit dieses später einfacher wiederverwendet werden kann.
Eine von De Wolfs Doktorierenden arbeitet daran zu klären, wie solche Materialpässe standardisiert und harmonisiert werden können. Hinzu kommen die gesetzlichen Bestimmungen, die Sanierungen erschweren.
Wenn jemand einen Altbau verändern möchte, muss er sich an die aktuell gültigen Gesetze und Normen halten, beispielsweise was die Isolation angeht. Doch die Normen sind zu stark auf Neubauten ausgerichtet und berücksichtigen Umbauten sowie den Kontext eines Gebäudes zu wenig, kritisieren sowohl Conen als auch De Wolf.
Hält die Bevölkerung mit Zürichs Entwicklung mit?
Conen plädiert stattdessen dafür, Orte so weiterzuentwickeln, dass sie für die Einwohnerinnen und Einwohner erkennbar bleiben. Ein Wandel sei dabei durchaus möglich. Doch gerade in einer Stadt wie Zürich, die sich derzeit sehr schnell verändere, stelle sich die Frage, ob sich die Bevölkerung so schnell daran anpassen könnte.
In der Vergangenheit hätten wir vieles zu schnell abgerissen, sagt Conen und fügt hinzu: „Wenn man nur die wichtigsten Baudenkmäler schützt und stehen lässt, werden Zwischenorte als unwichtig degradiert – zu Unrecht.“
Gleichzeitig ist sich die Architekturprofessorin bewusst, dass nicht jedes Haus erhalten werden kann. Damit Gebäude lange halten, müssen sie regelmässig unterhalten werden. Wurde der Unterhalt zu lange vernachlässigt, ist die Bausubstanz oft nicht mehr zu retten.
Auch eine Wiederverwendung von Materialien ist nicht immer möglich. Doch das vorhandene Potenzial sei nicht ansatzweise ausgeschöpft, sagt De Wolf. „Zum Beispiel wird viel Holz oft einfach verbrannt, obwohl es eigentlich ein leicht wiederverwendbares Material wäre.“ Beton werde zerkleinert, obwohl es auch möglich wäre, Betonplatten auszuschneiden und diese als Wände oder Bodenplatten wiederzuverwenden.
Zwar würden viele gebrauchte Stahlträger rezykliert, aber dafür eingeschmolzen. „Wenn man Stahl einschmilzt, kann man daraus jede gewünschte Form herstellen, doch das braucht viel Energie“, erklärt De Wolf. „Will man die Träger wiederverwenden, braucht es mehr gestalterische Denkarbeit von Architektinnen und Ingenieuren.“ Weil deren Arbeit teuer ist und Energie billig, hat die Wiederverwendung einen schweren Stand.
Aufwand reduzieren
Auch die Demontage von Bauelementen, wie De Wolf sie beim Centre Pompidou aufgezeigt hat, ist arbeitsaufwendig und teuer. „Etwas einfach abzureissen, durch einen Neubau zu ersetzen und den Schutt auf einer Deponie zu entsorgen, ist oft am günstigsten“, sagt auch Conen.
Das ist die wirtschaftliche Realität. „Wir müssen einen Weg finden, dass der Kreislauf nicht aufwendiger ist und mehr kostet als die heutige lineare Wirtschaft“, sagt De Wolf. Roboter einzusetzen, die Baustoffe sorgfältig und kostengünstig demontieren, sodass man sie wiederverwenden kann, ist für sie beispielsweise eine Lösung.
Beinahe noch aufwendiger als die Demontage ist es, Interessenten zu finden, die die Materialien wiederverwenden möchten. Beim Centre Pompidou hat De Wolf dafür ungezählte Stunden aufgewendet. „Warum ist das so kompliziert?“, fragte sie sich. Sie plant daher, zusammen mit der Industrie einen zentralen virtuellen Marktplatz für Anbietende und Interessenten aufzubauen. „Wir möchten ein ganzes digitales Ökosystem schaffen.“
Neben diesen wirtschaftlichen und logistischen Fragen gibt es auch noch technische und rechtliche: Sind die wiederverwendeten Stahlträger statisch tragfähig? Wurde das Holz mit giftigen Chemikalien behandelt? Und wer kann eine Garantie für die Unbedenklichkeit abgeben?
Es brauche in Zukunft mehr spezialisierte Bauingenieurinnen und -ingenieure, die diese Fragen beantworten könnten, sagt De Wolf. Heute gibt es nur sehr wenige Fachleute mit dieser Expertise, meistens sind sie in der Beurteilung der Tragfähigkeit von historischen Gebäuden tätig.
Modulares Bauen kann dabei helfen, Reparaturen und Wiederverwendung zu erleichtern. Zentral ist auch, wie die einzelnen Bauteile miteinander verbunden werden. Geklebte Verbindungen lassen sich schlecht lösen. „Wenn man Teile aber ineinander verzahnt oder sie verschraubt, lassen sie sich wieder auseinandernehmen“, sagt De Wolf.
„Nicht alle Gebäude und alle Räume werden gleich genutzt“, sagt De Wolf. „Es sollte zum Beispiel möglich sein, ein schlecht isoliertes Gebäude als Museum zu nutzen und es dafür etwas weniger stark zu heizen.“
Conen erwähnt, dass Gebäude aus Energiegründen heutzutage möglichst luftdicht sein sollten. „Doch ein Chalet in den Bergen beispielsweise ist niemals luftdicht. Chalets wurden nach einem ganz anderen Konzept gebaut. Es ging darum, lokal vorkommende natürliche Baumaterialien zu verwenden und eine natürliche Belüftung zu gewährleisten.“
Gelungene Beispiele von Wiederverwendung
Bestehendes bleibt erhalten: In Winterthur entsteht aus dem teilweise denkmalgeschützten Busdepot Deutweg eine Wohnsiedlung. (Visualisierung: Conen Sigl Architekt:innen)
Angesichts der vielen Hindernisse und des Mehraufwands, die Renovationen und die Wiederverwendung von Baumaterialien mit sich bringen, braucht es heute eine gute Portion Idealismus, um solche Projekte voranzutreiben.
„Die Bauherrschaft muss das bewusst wollen“, sagt Conen. „Und ich freue mich jedes Mal, wenn ein Umbau gegenüber einem Neubau als ernsthafte Option in Betracht gezogen wird.“
Gelungene Beispiele von Renovationen, Umnutzungen und Bauteilwiederverwendungen sind heute oft Einzelinitiativen. Eines ist ein aktuelles Bauprojekt von ETH-Professorin Conens Architekturbüro: In Winterthur wird in den nächsten Jahren ein über hundertjähriges Depot für Stadtbusse in eine Wohnsiedlung integriert.
Die Busgarage und ihr Untergeschoss, die dem Gebäude Stabilität verleihenden Stahlträger und die darin gespeicherte graue Energie bleiben erhalten. Darauf und daneben entstehende Wohnneubauten werden weitgehend in Holzbauweise errichtet – teilweise verstärkt durch Beton und wiederverwendete Stahlträger. Die Bedachung und die Glasdecken der Nebengebäude werden innerhalb des Projekts ebenfalls wiederverwendet.
Die Projekte von De Wolf und Conen zeigen: Es ist möglich, das Bauen neu zu denken und damit Ressourcen zu schonen und das Bestehende einzubeziehen und weiterzuentwickeln. Die beiden Professorinnen arbeiten daran, dass dieser Ansatz breiter akzeptiert wird und dass die vorhandenen technischen und logistischen Herausforderungen gemeistert werden können.
De Wolf ist optimistisch gestimmt mit Blick auf die junge Generation der Studierenden, die sie unterrichtet, und ihrer Doktorierenden: „Sie gibt mir viel Hoffnung für die Zukunft des Bauwesens.“
CAS ETH in Repair and Maintenance
Das neue Weiterbildungsprogramm der ETH Zürich konzentriert sich auf skalierbare Reparatur- und Instandhaltungsstrategien sowie auf Werterhaltungskonzepte für Gebäude und deren Bauteile. Es richtet sich an Fachpersonen, die in den Bereichen Architektur, Ingenieur- und Bauwesen, Industriedesign und Immobilienbewirtschaftung und Risikomanagement tätig sind. Die Absolventinnen und Absolventen können unter anderem einen nachhaltigen Wandel in der Baubranche aushandeln und mitgestalten.
Quelle: ETH Zürich / ETH-Magazin Globe
Bildquelle: ETH Zürich / Conen Sigl Architekt:innen / Alexandre Attias